Ach, und du bist also „queer“?

von Mika Herbst

Einen Artikel in der letzten Ausgabe der Queerulant_in möchte ich zum Anlass nehmen, um bestimmte Sichtweisen über trans* zu beleuchten, die sich in queer-feministischen Diskursen im deutschsprachigen Raum hartnäckig halten. Unter dem Titel „Ach und du bist also ‚cissexuell‘?“ findet sich dort ein Text, der geradezu beispielhaft queer-feministische Gemeinplätze über trans*, cis und die Geschlechterbinarität wiederspiegelt – Sichtweisen, die (so reflektiert sie sich auch geben) auf cis-normativen Denksystemen beruhen und sich allzu oft der Bedeutung von cis-Privilegien nicht bewusst sind. Daher ist der folgende Text eine Kritik nicht nur an jenem Artikel, sondern an weit verbreiteten Vorannahmen über trans*, die an der Lebensrealität und dem Erfahren vieler trans* Menschen vorbeigehen.

Der alte sex-gender-Dualismus

trans*, was ist das eigentlich? Wir suchen Definitionen, wir finden und fressen was uns schmeckt: trans* ist das Nicht-Zusammenpassen von Geschlechtsidentität und „Körpergeschlecht“, heißt es in dem oben erwähnten Artikel. Einfach, nicht? Passt gut zu dem, was wir alle schon gehört haben: „gefangen im falschen Körper“, „ein Mann im Körper einer Frau“. Tragische Talkshows auf RTL.
Moment, da war doch was, das „biologische Geschlecht“ ist keineswegs natürlich, sondern wird diskursiv erzeugt, war das nicht Judith Butler? Hat das etwas mit trans* zu tun?

Auch wenn wir – theoretisch – um seine Konstruiertheit wissen, beinhaltet der Begriff „biologisches Geschlecht“ immer die Vorstellung, dass Körper auf eine bestimmte Art und Weise vergeschlechtlicht seien: Laut dieser Vorstellung ist ein Körper ein männlicher Körper, wenn er über das verfügt, was die Medizin als Penis bezeichnet, und ein weiblicher Körper, wenn er über das verfügt, was die Medizin als Vulva bezeichnet.1 So wie die Begriffe Körpergeschlecht, biologisches Geschlecht, oder im Englischen sex gemeinhin verwendet werden, suggerieren sie, dass es so etwas wie ein dem Körper eingeschriebenes Geschlecht gibt, das natürlich und unveränderlich ist und rein auf den körperlichen Gegebenheiten beruht. Dem gegenüber wird ein „soziales Geschlecht“ (bzw. Geschlechtsidentität, gender) gestellt, das entweder mit dem „biologischen Geschlecht“ übereinstimmen kann, oder nicht.
Diese Auffassung von körperlichem Geschlecht folgt, wie wir sehen, dem Paradigma biologisch determinierter Zweigeschlechtlichkeit und ignoriert vollkommen, wie trans* Menschen und Menschen mit Transitionserfahrung ihren Körper empfinden und bezeichnen.

Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau2

– nämlich dann, wenn sie sich als Frau definiert. Folglich ist auch ihr Körper weiblich, egal was sie zwischen den Beinen hat. Eine Klitoris kann unterschiedlich aussehen. Und genauso haben Männer einen männlichen Körper, egal welches Geschlecht ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde. Und die Körper von weder-noch Menschen sind weder-noch. Wie ein Mensch seinen Körper sieht, fühlt und benennt, ist Sache dieses Menschen. Ändern müssen sich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, wie männliche und weibliche Körper auszusehen haben, nicht unsere Körper.
Die Verwendung des Begriffs „Körpergeschlecht“ spricht trans* Menschen das Selbstdefinitionsrecht über ihren Körper ab. Stattdessen werden ihre Körper fremddefiniert, und zwar nach den Vorstellungen von cis Menschen – mit solchen Fremddefinitionen müssen viele trans* Menschen tagtäglich kämpfen.

Den sex-gender-Dualismus zu meiden hindert uns nicht, über Geschlecht differenziert zu sprechen. Vielleicht brauchen wir dafür nur andere Worte: Wie identifiziert sich eine Person? Wie präsentiert sie sich? Wie wird sie gelesen? Das sind unterschiedliche Ebenen von Geschlecht, die für viele (auch cis!) Menschen nicht unbedingt zusammenfallen.
Es stellt sich auch die Frage: Ist es im jeweiligen Kontext wirklich von Bedeutung, ob jemand cis oder trans* ist, und welches Geschlecht mensch zugewiesen bekommen hat? Genügt es vielleicht einfach, Menschen so zu benennen, wie sie sich selber definieren?

Eine mögliche Definition von trans* wäre zum Beispiel: Menschen, die sich nicht (oder nur teilweise) mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Hier wird die cis-normative Zuweisung benannt, anstatt sie zu reproduzieren, wie es die Rede vom „biologischen Geschlecht“ tut.
Im Übrigen ist trans* Selbstdefinition. Ob eine Person trans* ist oder nicht, bestimmt sie selbst. Wenn wir in unserem Sprechen gewaltvolle Normen durchbrechen wollen anstatt sie zu reproduzieren, ist es notwendig, Selbstdefinitionen von Menschen zu achten.

Wessen Sprache?

Vor diesem Hintergrund komme ich nicht um die Frage herum: Wie kann sich ein Artikel in einer queeren Zeitschrift so prominent und unkritisch auf Volkmar Sigusch beziehen – einen Sexualwissenschaftler, der ausgerechnet einer jener „selbsternannten Expert_innen“3 ist, die in dem Artikel kritisiert werden. Sigusch ist mitverantwortlich für Inhalt und Formulierung des „Transsexuellengesetzes“ von 1980, das unter anderem Zwangs-Genital-OPs und -Sterilisationen festschrieb, näher gehe ich hier nicht auf die umfangreiche Kritik am TSG ein.
Warum werden cissexistische Zitate von ihm unkommentiert abgedruckt und seine cis-normativen Definitionen übernommen? Sigusch entlarvt sich doch bereits in seiner Sprache: Der Begriff „Transsexualismus“ zum Beispiel ist ein medizinischer Begriff, der allein durch die Endung „ ismus“ trans* irgendwo zwischen ideologischem Konzept, fixer Idee und psychischer Krankheit ansiedelt. Sigusch spricht in dem zitierten Aufsatz von einer Frau mit trans*-Vergangenheit als „operierter Transsexueller mit männlichem Körpergeschlecht“, von „Geschlechtswechlern“ und „umoperiert“.4

Oft wird auch in queeren Texten der Begriff „cissexuell“ auf Volkmar Sigusch zurückgeführt. Die unmarkierte Position (hier cis) zu benennen ist zweifellos sinnvoll – doch ist dieser Verdienst wirklich Sigusch anzurechnen? Allein die englischsprachige Wikipedia nennt drei unabhängige Belege für das Auftauchen des Begriffes „cisgender“ in online trans* communities Mitte der neunziger Jahre.5

Warum also beziehen sich immer wieder queer-feministische Texte auf Volkmar Sigusch? Vielleicht, weil sie ihm inhaltlich näher stehen als ihnen lieb sein dürfte. Diese Nähe verdeutlicht das Eingangszitat des oben genannten Artikels, in dem sich Sigusch in theologische Gefilde vorwagt: trans* käme nicht im „Schöpfungsplan des Herrn“ vor, sei „ganz und gar undenkbar“, und käme einer Überwindung des „natürlichen“ (Hervorhebung im Original) Geschlechts gleich.7 Voilà, Naturalisierung von Cisgeschlechtlichkeit – trans* ist das die Natur Transzendierende, das Künstlichevii, das Undenkbare, das Revolutionäre.

Bitte nicht binär…

Dieser verklärte Blick auf trans*, der in trans* Lebensweisen die utopische Überwindung der biologisch determinierten Zweigeschlechtlichkeit sieht, begegnet einer_m auch in queer-feministischen Szenen. Besonders androgyne trans* Maskulinität eignet sich gut als Projektionsfläche für vielerlei Sehnsüchte nach einer Welt ohne Geschlechter(hierarchie?).
Solche romantischen Projektionen funktionieren leider nicht mehr so gut, wenn sich die Projektionsfläche statt genderqueer eindeutig als Mann bzw. Frau verortet, oder wenn sie sich vielleicht aus rein überlebens-praktischen Gründen dazu entscheidet zu transitionieren. Das bedeutet dann, „sich dem Geschlechterbinarismus [zu] fügen“8, unterzugehen in der Zweigeschlechtlichkeit. Wie unqueer!
Danke an dieser Stelle für den nur leicht paternalistischen Ratschlag, mensch könne die eigene trans*Identität ja durch eine „Vornamens- und_oder Personenstandsänderung“ ausdrücken, es müsse ja nicht gleich eine OP sein, „nur um die vorhandene Zweigeschlechtlichkeit wieder herzustellen“9. Hier geht es nicht mehr um die Freiheit zur geschlechtlichen Selbstverortung, sondern es wird eine neue trans*-Norm eingeführt: Namensänderung ist cool, Hormone schon weniger, und OPs stellen die Zweigeschlechtlichkeit wieder her.10 Sich binär zu identifizieren, also als Frau oder Mann, bekommt einen Beigeschmack von „unqueer“ und reaktionär.

Diese Hierarchisierung geschlechtlicher Identitäten erstreckt sich auch auf Menschen, die das Glück haben mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht zufrieden zu sein. Die Kategorien Mann und Frau sind ja „nur“ konstruiert! Auf der Grundlage von queer-theoretischen Versatzstücken entwickelt sich eine herablassende Sicht auf Menschen, die sich mit diesen Kategorien identifizieren. Sie gehen offensichtlich der ihnen ansozialisierten zweigeschlechtlichen Logik auf den Leim. Das spiegelt sich schön in jenem Artikel wieder, in dem der Geschlechtsausdruck von cis Menschen verächtlich als „Maskerade“ bezeichnet wird, und ihnen pauschal unterstellt wird, Angst um ihre Männlichkeit/Weiblichkeit zu haben. Diese Haltung verkennt das identitäre Wesen von Geschlecht – sie hält uns vor, wir könnten, wenn wir nur wollten, mit der richtigen theoretisch-politischen Einsicht alle unsere Identität „verqueeren“.
Viele Menschen fühlen sich als Frauen oder Männer, und zwar unabhängig davon, ob ihnen dieses Geschlecht bei der Geburt zugewiesen wurde oder nicht. Sich binär zu verorten ist nicht per se ein Zeichen fehlender Reflexion oder „queerness“; sondern bedeutet einfach, eine von vielen geschlechtlichen Identitäten als für sich passend zu empfinden. Und ja: Wir leben in einer Gesellschaft, in der diese Kategorien vorbelastet sind: mit unterschiedlichem Zugang zu Macht und Ressourcen, mit unterschiedlichen Möglichkeiten sich zu entfalten, und mit Bildern und Rollenmodellen in denen sich viele nicht wiederfinden. Als Männer/Frauen stehen wir immer vor der Frage, wie wir mit diesen Gegebenheiten umgehen.

Queere Politik läuft in eine Sackgasse, wenn sie Menschen die Legitimität ihrer geschlechtlichen Identitäten abspricht, oder wenn bestimmte Identitäten als revolutionärer gelten als andere. So verstanden bleibt sie Identitätspolitik, und ihr „wir“ bildet sich durch Ausschlüsse. Menschen verächtlich zu machen, weil sie sich als Männer oder Frauen identifizieren, bringt uns einer Gesellschaft jenseits von cis und trans* keinen Schritt näher.

Queer bedeutet für mich ein Bewußtsein für unterschiedliche gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse – „eine verantwortungsvolle politische Praxis, welche versucht, Ungleichheitsverhältnisse mitzudenken, sichtbar zu machen und zu verändern“11. Das bedeutet auch, den Blick auf eigene Privilegien zu richten. Und ganz zentral: anzuerkennen wie andere Menschen sich selbst identifizieren.

 

Mika Herbst beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen Sprache, Denken und Erleben und deren Wechsel- und Auswirkungen. Sie schreibt und leitet Workshops u.a. zu trans* Themen.

 

 

Anmerkungen

1 grob verkürzt, denn so einfach ist es nicht einmal in der Medizin. Differenzierter kann zwischen chromosomalem, hormonellem, gonadalen und genitalem Geschlecht unterschieden werden – und diese vier sind nicht bei allen Menschen kongruent. Der Begriff “biologisches Geschlecht” ist also erst einmal schon ungenau – so etwas wie das biologische Geschlecht gibt es nicht. Es gibt verschiedene körperliche Konfigurationen, die von sehr alten und von jüngeren gesellschaftlichen und medizinischen Diskursen vergeschlechtlicht wurden.

2 mit Frauen meine ich Menschen die sich als Frauen identifizieren. Das Sternchen finde ich problematisch und verwende es bewusst nicht. Mit „Frauen*“ z.B. werden oft Menschen mitgemeint, die sich selbst gar nicht als Frauen identifizieren. Die Schreibweise mit * weist zwar auf die Konstruiertheit der binären Kategorien hin, nimmt aber gleichzeitig eine cis-normative Fremdzuordnung vor – anstatt Menschen anhand ihrer Selbstdefinition anzusprechen.

3 die leider nicht nur selbsternannt sind, sondern auch mit einer gesellschaftlichen Macht ausgestattet, die ihnen erlaubt über Schicksale von trans* und intergeschlechtlichen Menschen zu entscheiden – von ihrem Urteil hängt für viele trans* Menschen der Zugang zu körperlichen und juristischen Veränderungen ab.

4 Sigusch, Transsexueller Wunsch und zissexuelle Abwehr, Psyche 1995, 49, gefunden unter http://transgender.at/infos/med/abwehr.html, Zugriff am 16.2.2014

6 Sigusch, Neosexualitäten, 2005, nach: Queerulant_in 6, 12.2013/1.2014, S. 36

7 auch wenn Künstlichkeit in bestimmten Kontexten in Abgrenzung zu Konstruktionen des „Natürlichen“ durchaus emanzipatorisch konnotiert ist, ist mir wichtig zu erinnern dass die Projektion von „Künstlichkeit“ eine wesentliche Funktion im gesellschaftlichen othering von trans* Menschen hat. Auch Femininität ist mit Künstlichkeit behaftet, deshalb sind besonders feminine trans* Frauen von Zuschreibungen von Künstlichkeit betroffen.

8 Eulenstaub, Ach und du bist also „cissexuell“?, in: Queerulant_in 6, 12.2013/1.2014, S. 37

9 ebd.

10 auch hier spielen Bilder und Normen über Natürlichkeit und Künstlichkeit eine Rolle – schließlich sind gerade körperliche Veränderungen der Aufhänger klassisch transphober Erzählungen über die „Künstlichkeit“ von trans*

11 Joke Jannsen über „Solidarität als queere Utopie“, in: Jannsen, Joke, Femme für alle im lesbisch-schwulen Mainstream?, in: Fuchs, Sabine (Hg.), Femme! radikal – queer – feminin,
Berlin 2009, S. 73